Letzte Woche war ich bei meinen Verwandten zu Besuch, dem jüngeren Bruder meines Vaters mit seiner Familie, die ich alle ewig nicht gesehen hatte. Ich tuckerte also am Sonntagmittag gemütlich
einmal um den Harz herum nach NRW und wurde dann in H. von meiner Cousine mit den Worten„Der Tisch ist schon gedeckt!“ abgeholt, was für meine Ohren wunderbar vertraut klang und mich sehr froh
stimmte. Und so stiegen wir nach einem kurzen Abstecher über das gerade verblassende Landesgartenschaugelände in ihren flotten Flitzer, irgendwas mit viel PS und Cabriodach, das wir wegen des
ostwestfälischen Wetters gar nicht aufmachen konnten - kommt hoffentlich noch, liebe Cousine! - wir fuhren also durch diese eigenartig vertraute, wenn auch lang nicht gesehene Landschaft.
Meine Tante und mein Onkel hockten gutgelaunt in ihrem Wintergarten und setzten sich bereitwillig auch für ein Foto in Position, „So nah aber auch nicht, Kunigunde“, scherzte mein Onkel nach
immerhin 57 Ehejahren, als meine Tante direkt neben ihm Platz nahm. Es war herrlich, meinen Onkel zu sehen, der genauso aussah, wie er soll, nämlich wie die jüngere Kopie meines Vaters,
ausgestattet mit ebensolchem Humor und Herzlichkeit. Nach einigem Geplauder über dies und das ging es an die Kaffeetafel, wo schon der leckere Birnencrumble bereitstand. Noch ein kurzer Check -
klar, Sonntagnachmittag, die Bundesliga läuft - und das führt jetzt wirklich ab - auf die smarte Uhr meiner Flotte-Flitzer-Cousine und schon lag ein leichter Anflug von Ungemach in der
Luft. Schalke, ohnehin blamiert durch den Abstieg in die zweite Liga, drohte, auch noch ein weiteres Spiel gegen wen?, also einen wirklich völlig unbekannten Gegner zu verlieren und sich
geradewegs auf dem absteigenden Ast in die dritte Liga! zu befinden. Angesichts dieser Nachricht musste der Mann meiner anderen Cousine sich sofort zurückziehen und konnte keinen leckeren
Birnencrumble mehr mitessen.
Der Rest von uns konnte nach kurzem Stopp aber weitermachen, es wurde gegessen, getrunken, geredet und gelacht, eben alles, was zu einem schönen Sonntagnachmittag dazugehört, bis meinem Onkel
unser Gequatsche zu viel wurde und wir beschlossen, einen Schwenk durch das "Dörfchen B." zu machen, wie es bei Anette von Droste-Hülshoff so schön heisst.
Ich mach es kurz, es war wunderbar, all die alten Plätze abzulaufen, vieles war sehr vertraut und bekannt, aber eins war sehr neu: nämlich das Annette von Droste-Hülshoff-Museum.
Der ehemalige Archivar Herr K. Ist inzwischen gestorben und hat alles, was er je von Annette von Droste-Hülshoff in die Finger kriegen konnte, seinen Nachfahren überlassen. Diese Relikte sind
jetzt, sehr schön dargeboten, in einem kleinen Museum zu sehen, was sein ehemaliges Wohnhaus ist. Wirklich schön kann man in den alten Fotos stöbern, die Aufzeichnungen durchlesen - und sich um
die fingierte Judenbuche setzen, die ja eben durch den Roman von Annette von Droste-Hülshoff sehr bekannt wurde.
Ich habe, das muss ich ehrlicherweise zugeben, die "Judenbuche" nie gelesen, trotz Germanistik-Studiums, aber vielleicht hole ich das ja irgendwann mal noch nach. Der Roman hat aber
trotzdem Spuren in meinem Leben hinterlassen, denn ich erinnere mich, dass Annette von Droste-Hülshoff mit ihrem Knaller-Roman im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“, am Ende zu einem
echten Winner-Argument wurde, der Game-Changer, wie man so schön sagt. Mein Vater pflegte sich für diesen Wettbewerb Jahr für Jahr sehr ins Zeug zu legen und konnte es schwer ertragen, dass
„unser Dörfchen B.“ Mal um Mal den kürzeren zog hinter dem anderen Dörfchen B. ein paar Kilometer weiter, mit dem seit - keiner weiß seit wann - Ewigkeiten ohnehin eine tiefe Feindschaft
bestand.
Befeuernd für dieser Konflikt war, dass es nicht ganz sicher war, wen Annette von Droste-Hülshoff nun gemeint hatte mit dem „Dörfchen B.“, ob sich „das Dörfchen B“ jetzt auf „unser Dörfchen
B.“ bezog oder doch das andere "Dörfchen B.", wer also dieses Argument nun für sich im Wettebwerb nutzen konnte.
Mein Vater hatte irgendwann die Nase voll, immer wieder hinten zu liegen, und beschloss, der Platzierung ein bisschen auf die Sprünge zu helfen, dem Sprung auf Platz 1. Er verabredete sich
also nachts mit einem Kumpel und karrte auf einem Traktor mit Anhänger einen großen Findling herbei - gerade an die Stelle gegenüber von dem Schlösschen, wo Annette ihre Sommer verbrachte und
dieses Werk geschrieben haben soll - und das ein winziges Bisschen näher an "unserem Dörfchen B.“ liegt als an dem anderen. Dann positionierte er ein fettes Schild neben dem Findling, auf das er
die Worte schrieb: „Hier schrieb Anette von Droste-Hülshoff die Judenbuche." Die nächste Runde bei "Unser Dorf soll schöner werden." ging an uns. - Bellersen. Da wo wir sind, ist oben.
Meine Flotte-Flitzer-Cousine chauffierte mich auf dem Rückweg an eben diesem Stein vorbei. Sehr hübsch. Aber ich kann mich auch irren.